Leipzig und die konstruktiv/konkrete Kunst

(Claus Baumann, Leipziger Blättern Heft 73)

Obwohl es zuweilen erscheinen will, daß der regionale Mainstream, die Medien und viele vor Ort wie zu Klingers Zeiten bemüht sind, ihr Augenmerk, wie einst allein auf Max Klinger, diesmal allein auf Neo Rauch zu richten, so geht doch in unseren Tagen – entgegen diesem Trend und dank G2, Kunstkraftwerk, B2 usw. – die weitere Kunstentwicklung anscheinend nicht gänzlich an Leipzig vorbei, wie das zu Klingers Zeiten geschah. Im Gegenteil, es lassen sich inzwischen Dinge finden, die von so großer Andersartigkeit und Qualität sind, wie man das für Leipzig nicht erwarten würde: konstruktiv/konkrete Kunst zum Beispiel.
Man könnte beinahe behaupten, daß sich Leipzig in den letzten siebzig Jahren still und heimlich zu einem Zentrum der konstruktiv/konkreten Kunst entwickelt hat und durchaus konkurrieren könnte mit Zentren wie Düsseldorf, Stuttgart oder Dresden. Und mit der von Harry Müller gestalteten Fassade der sogenannten Blechbüchse und den drei Springbrunnen davor besitzt Leipzig inzwischen eines der größten konstruktiv/konkreten Kunstensembles, die innerhalb eines städtischen Zentrums zu sehen sind.
Man schreibt im allgemeinen, daß die konstruktiv/konkrete Kunst in den 1930er Jahren mit Josef Albers’ Gemälde »Hommage to the Square« ihren Anfang nimmt, aber das ist nur der Beginn der theoretischen Auseinandersetzung mit Formen der Bildkunst, die man bis dahin (zumindest innerhalb der Kunstgeschichtsschreibung) nicht für Kunst gehalten hatte: die Figuren der Geometrie zum Beispiel.
Es war längst eine Erweiterung des allgemeingültigen Kunstbegriffs geschehen, wenn man zum Beispiel nur an Malewitsch oder Tatlin denkt oder an die vorindustrielle Zeit der hochveredelnden Manufakturen usw. So wie sich heutzutage (allzumal in Leipzig) eine Erwei-terung des Begriffs »konstruktiv/konkrete Kunst« vollzieht und den Blick frei gibt für den Reichtum einer künstlerischen Ausdrucksform, die man lange allein auf das Quadrat, den Kreis, das Dreieck oder rein mathematisch begründete Strukturen begrenzen wollte. Dabei ist diese scheinbar sehr junge Kunstauffassung eigentlich so alt wie der abendländische Kunstbegriff überhaupt, denn schon Platon schrieb an einen Freund: »Unter der Schönheit der Formen verstehe ich jetzt nicht, was die große Menge sich darunter denkt, [also nicht die äußere Erscheinung] von lebenden Wesen oder Gemälden, sondern ich meine das, was gerade oder kreisförmig ist, und danach die Flächen und Körper, wie sie durch Zirkel, Lineal und Winkelmaß entstehen, wenn du mich verstehst. Diese, sage ich, sind nicht in Beziehung auf etwas anderes schön wie sonstige Dinge, sondern sie sind ewig, an sich, ihrem Wesen nach schön.«
Es hat unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, etwa von 1946 bis 1954, einen merkwürdigen Bauhausboom in Leipzig gegeben. Zentrum dieses Baugeschehens war ab 1948 das Territorium der alten Technischen Messe. Der damals dafür zuständige Mitarbeiter des Messeamts war Bauhausfan und verpflichtete für die Gestaltung der Messestände alles, was er an konstruktiv/konkret arbeitenden Künstlern auftreiben konnte: wie Marc Stam zum Beispiel. Das ging bis etwa 1954, dann verschwand dieser Moment der Moderne wieder aus dem Stadtbild und begab sich mit Künstlern wie Manfred Martin in den Untergrund. Doch wiederum nicht generell, denn Künstler wie Harry Müller zum Beispiel, der doch in einem sehr strengen konstruktiv/konkreten Sinne arbeitete, durften wenig später ganz unbehelligt ihren diesbezüglichen Neigungen nachgehen, weil ihre Kunst zum Beispiel im Hinblick auf kostengünstige Fassadengestaltung eine wirtschaftliche Bedeutung besaß. Zu erwähnen ist hier noch, daß ab 1954 der Bauhäusler Hajo Rose an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig lehrte, und der hatte immerhin Ende der 1930er Jahre den Bauhausgedanken nach Holland getragen. Er könnte möglicherweise (wenn auch nicht direkt, so doch indirekt) Einfluß auf Künstler wie Manfred Martin gehabt haben, der sich ab etwa 1954 ausschließlich mit der konstruktiv/konkreten Kunst beschäftigte; und das war die Zeit, als Rose nach Leipzig kam.
Es ist im nachhinein für die DDR-Zeit schwer zu rekonstruieren, was sich insbesondere in bezug auf konstruktiv/konkrete Kunst in Leipzig (oder der DDR überhaupt) tatsächlich vollzogen hat, denn Ausstellungsmöglichkeiten gab es so gut wie keine. Und die einen, wie erwähnt, durften es – wenn auch verdeckt unter dem Begriff der angewandten Kunst – ganz öffentlich, andere dagegen nur heimlich. Und so ergab sich so manche Kuriosität: Als der VEB Robotron in den 1980er Jahren zum Beispiel einen durchaus leistungsfähigen Computer entwickelte, aber keinen Drucker besaß, mit dem man auf den Messen hätte zeigen können, wozu dieser Rechner fähig war, ließ man sich von Eberhard Hertwig, der unter anderem auch konstruktiv/konkret arbeitete, vergleichbare Ergebnisse einfach malen.
Eine andere Merkwürdigkeit dieser Entwicklung kann man in der fast durchgehenden Vorliebe für die Gestaltung von Schaukästen oder Reliefbildern (Assemblagen) sehen, in denen mit vorgegebenen Materialien und Formen Bildwerke konstruiert wurden, wobei der Begriff »konstruiert« als ein Zusammenfügen im kreativen Sinne zu verstehen ist. Man kann dabei, ohne Gewalt anzuwenden, eine durchgehend teils auch formale Linie von Hajo Roses Fotografie »Seemannsbraut III« von 1934 (die sich aber nachweislich noch 1970 in seinem Besitz befand, also in seiner Leipziger Zeit) über die vergleichbaren Arbeiten von Maria Becke-Rausch (1965–1967) oder die von Johannes Keller (1968), Günter Huniat (1967 oder 1988), Heiner Ulrich (um 1985) bis hin zu den neueren Arbeiten von Oskar Rink verfolgen. Das Besondere dabei ist, daß die betreffenden Künstler bis heute vonein-ander kaum etwas oder gar nichts wußten.
Innerhalb der Leipziger Entwicklung läßt sich zudem eine Klassifizierung vornehmen, indem man von der fast fundamentalistischen, gänzlich auf mathematischen Berechnungen basierenden Auffassung ausgehend, die Betrachtungsweise immer weiter auffächert; wobei das fast chronologisch verläuft, weil diese Entwicklung mit einer zunehmenden Weltbilderweiterung – und infolgedessen eben mit einer Erweiterung des Kunstbegriffs – einhergeht. Fast, muß man sagen, denn die Konsequentesten (im Sinne Platons und Max Bills, des großen Schweizer Konstruktivisten) sind für Leipzig Harry Müller, gefolgt von Roland Meinel, Susanne Werdin, Frank Tangermann, Edda Jachens (die zehn Jahre in Leipzig lebte und arbeitete). Aber die sind nicht die ersten, der erste bleibt Manfred Martin, der zwar ebenso konsequent bei geometrischen Formen als Grundlage seiner Bilder blieb, diese jedoch in einer poetischen oder malerischen Gestaltungsweise (und weitab von konkreten geometrisch-mathematischen Überlegungen) verwendete.
Wie die meisten der Leipziger Konstruktiven ist Martin anfangs einer der sogenannt realistisch-figürlich Malenden und brachte es gleich einigen anderen auf diesem Gebiet bereits zu bemerkenswerter Meisterschaft, bevor er – quasi über Nacht – seine eigentliche Neigung entdeckte und sich ausschließlich der Faszination konstruktiv/konkreter Kunst zuwandte, wie ebenso Susanne Werdin, Frank Tangermann, Knut Müller oder Gerhard Wichler.
Es haben sich unter dem Vorzeichen der konstruktiv/konkreten Kunst inzwischen zwei beachtenswerte Künstlergruppen gebildet: um Johannes Keller die Gruppe »opal« mit Hans Christian Neumann und Daniel Reimer und »kingkongkret« mit Susanne Werdin, Frank Tangermann, Gerhard Wichler, Knut Müller, Dirk Richter und Ingrid Sperrle. Wobei bei der Gruppe »opal« nicht jeder für sich arbeitet, sondern Gemeinschaftswerke entstehen, deren geistig-künstlerisches Zentrum aber gewiß Johannes Keller ist.
Besonders groß ist der Kreis der Künstler, die nicht ausschließlich, aber immer wieder konstruktiv/konkret arbeiten und dabei diesem Anliegen mal sehr streng, mal verspielt, mal malerisch oder zum Erzählerischen neigend, mal im Verbund mit anderen Ausdrucksformen gerecht werden, so wie Günter Huniat, Akos Novaky, Petra Ottkowski, Günter Brendel, Claudius Gabriel (Keramik), Harald Bauer, Ingo Regel. Oder zuweilen mit sehr kühnen, überraschenden Bildfindungen wie Peter Krauskopf oder Tilo Schulz.
Nennen muß man auch zwei Künstler, die sich erst seit ihrer Pensionierung, aber dann intensiv mit konstruktiv/konkreter Kunst auseinandersetzten und die beide (wie auch Johannes Keller) von der Schriftgestaltung kamen: Paul Zimmermann und Irmgard Horlbeck-Kappler.
Konstruktiv/konkrete Kunst, das ist die künstlerische Auseinandersetzung mit den unendlichen Variationsmöglichkeiten des scheinbar invaria-blen Konkreten. Der Begriff ist so falsch wie der Glaube, daß ein Dreieck nur ein Dreieck, eine Kugel nur eine Kugel sei usw. Und es steht dabei nicht die Frage, ob ein Rubens weiß Gott nicht doch ein besserer Zeichner war, sondern, was verbirgt sich noch alles hinter einem simplen Strich oder einem belanglosen Rechteck? Denn besitzt ein simples Rechteck zum Beispiel nicht doch ungeahnte Besonderheiten? Wie das in Frank Tangermanns Arbeiten zutage kommt. Oder (auf andere Simplizitäten bezogen) in Gerhard Wichlers Objekten, mit denen dieser banalste Gegenstände zum Klingen bringt. Wie die meisten die Kraft des Seriellen nutzend, vergleichbar wie einst György Ligeti oder Olivier Messiaen in der Musik?
Wir nehmen, reizüberflutet, nicht mehr wahr, was alles auf unsere Sehgewohnheiten manipulierend Einfluß nimmt. Erst Künstler wie Benjamin Dittrich lassen uns dies mit ihren Arbeiten bewußt werden. Oft nur durch die Frage: Warum sind uns dergleichen zunächst fremd wirkende Bilder so vertraut? Ganz einfach: Sie lassen sich (wie bei Dittrichs Arbeiten zum Beispiel) zurückführen auf die unzähligen Pikto- und Diagramme, die wir spätestens von der Schulzeit an ein Leben lang konsumieren – ohne ihnen bewußt eine ästhetische Bedeutung oder gar Einflußnahme auf unsere Sehgewohnheiten beizumessen.
Unter diesen Gesichtspunkten kann oder muß man auch die Werke von Sebastian Rug und Bastian Muhr einordnen, die gleichfalls Momenten folgen, die für uns bisher keine Bedeutung besaßen. Oder die Werke der jüngsten Generation, zum Beispiel die von Carsten Goering, der seinen geometrischen Flächen eine Farbbehandlung gibt, wie man sie sich gestern nicht hätte träumen lassen.
Es ist erstaunlich, daß eine von »realistisch–figürlicher Malerei und Grafik« dominierte Stadt (Stichwort Leipziger Schule) Künstlerinnen und Künstler hervorbringt, die sich mit der dazugehörigen Konsequenz und gegen den Mainstream (also in Kauf nehmend, daß man meist nur schwer davon leben kann) mit konstruktiv/konkreter Kunst befassen. Ein Phänomen? Oder der Beweis für die zwingende Kraft dieser Kunst und den Pioniergeist ihrer Künstler. Da geschieht tatsächlich Neues. Schade nur, daß es zunächst so wenig erkannt wird. Allzumal in Leipzig, das in seiner tausendjährigen Geschichte in den vergangenen siebzig Jahren zum ersten Mal eine bemerkenswerte und weltweit wahrgenommene Kunstentwicklung erfährt, die sich vor allem nicht allein auf das begrenzen läßt, was die höchsten Preise erzielt, sondern weit darüber hinaus ihre Besonderheit durch ihre Vielfalt erlangt. ν